Die Bierglas-Katastrophe

Beer tent

Im Moment der Katastrophe stand die Zeit still. Isabelle konnte die ganze Situation in all ihren winzigen und schmerzhaften Details betrachten. Der Stapel voller Biergläser, der sich in ihren Händen befand, die lauten Menschen rund um das Oktoberfestzelt, ihre Arme, die unter dem Gewicht der Gläser schmerzten, und Ursel, die vorsprang und die Hand ausstreckte. Isabelle wusste, was passieren würde, und sie wusste, dass sie es nicht verhindern konnte. Die Gläser versperrten ihr die Sicht, und sie konnte nur fühlen, nicht sehen, wie ihr ein Glas entglitt. Natürlich war es töricht gewesen, so viele Gläser auf einmal zu tragen. Es war ihr erster Arbeitstag als Kellnerin auf dem Oktoberfest, und sie war zu eifrig, zu enthusiastisch gewesen. Jetzt rutschte das letzte Glas, das sie in die Hand genommen hatte, herunter. In der hitzigen Atmosphäre des Bierzeltes war es fast angenehm zu spüren, wie die eiskalte Oberfläche des Glases über ihre Finger strich, als sie vergeblich versuchte, es festzuhalten. Sie spürte, wie sich ihr Griff um den gesamten Stapel lockerte und die Kettenreaktion das komplizierte Geflecht aus Abhängigkeiten zwischen den Gläsern zerriss. Wie in Zeitlupe ließ sie das Glas, das bereits auf dem Weg zu Boden war, los und versuchte, sich an den restlichen Gläsern festzuhalten. Wild griff sie nach ihnen, aber der Schaden war angerichtet. Erst eines, dann in einer Kaskade gingen sie alle zu Boden.

Krach!
Mit einem großen und lauten Klirren zerbrach jedes einzelne Glas von ihnen und verschüttete seinen goldenen Inhalt über Isabelle die umstehenden Gäste und den Boden.
Eine plötzliche Stille legte sich über das Zelt. Sie stand da, durchtränkt von Bier, mit dem süßen und kräftigen Geruch des Bieres in der Nase, und alle Gesichter waren ihr zugewandt. Plötzlich brach jemand links von ihr in Gelächter aus, und im nächsten Moment platzte das ganze Zelt vor Lachen aus allen Nähten. Nur Isabelle lachte nicht. Sie stand mitten in diesem Chaos, ihr Herz pochte in ihrer Brust und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Dann drehte sie sich blitzschnell um, verdeckte ihr tränenverschmiertes Gesicht mit den Händen und rannte hinaus. Isabelle ging an Ursel vorbei, der dicken, älteren Kellnerin, die sie an diesem ersten Tag beaufsichtigt hatte, sie aber nicht beachtete. Sie kehrte stundenlang nicht zur Arbeit zurück, da sie sich zu sehr schämte.

Einerseits fühlte sie sich schuldig, dass sie ihren Posten verlassen hatte, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als so weit wie möglich vom Oktoberfest entfernt zu sein. Andererseits ließ ihr Pflichtgefühl ihr keine Ruhe, und sie musste wenigstens dafür sorgen, dass es den anderen Kellnerinnen gut ging. Es war spät, sehr spät, und die letzten betrunkenen Feiernden schleppten sich oder einander aus den Zelten. In dem Moment, als sie wieder eintrat, hob eine der Kellnerinnen den Kopf und sah zu ihr herüber. Es war Ursel, die breite Frau mit ihren dicken feuerroten Armen, die eine Art unerschöpfliche Energie ausstrahlte. Nach einem Moment blickten auch die beiden anderen Kellnerinnen von ihrer Arbeit auf und beobachteten sie von der anderen Seite des Zeltes. Isabelle spürte eine plötzliche Hitze in ihren Wangen, und sie wusste, dass sie knallrot geworden sein musste.

"Willst du da stehen bleiben oder was? Komm her und nimm dir etwas zum Schrubben", rief Ursel mit fordernder, aber freundlicher Stimme. Zaghaft und unsicher ging Isabelle hinüber, während die anderen Kellnerinnen bereits wieder mit dem Putzen begonnen hatten. Isabelle begann sich zu entspannen und arbeitete mit mehr Eifer an den Bierflecken, und am Ende ertappte sie sich sogar dabei, dass sie sich in die Gespräche der anderen Kellnerinnen einschaltete.

Als alles aufgeräumt war und die beiden anderen Kellnerinnen bereits gegangen waren, nahm Ursel Isabelle für einen Moment zur Seite. Sie schaute ihr direkt in die Augen, und zum ersten Mal bemerkte Isabelle die Vertiefungen um ihre Augen und die Müdigkeit im kräftigen Körper der älteren Frau. Ihr schwarzes Haar war immer noch zu einem festen Knoten gebunden, aber ihr Gesicht war erschöpft, und ihre großen Arme schienen sehr schwer zu sein, als sie sie vor der Brust verschränkte. "Du kannst nicht noch einmal so eine Nummer mit uns abziehen", begann sie mit strenger Stimme. "Du hast mich und die Mädchen in den letzten paar Stunden im Stich gelassen." Ihre grünen Augen blickten Isabelle unverwandt an und ein Stich der Schuld stach in ihr Herz. "Aber", sagte Ursel in einem sanfteren Ton. "Du bist zurückgekommen und das zeugt von gutem Geist. Wenn man etwas anfängt, wird es immer schwierig sein und man wird zwangsläufig Fehler machen. Das ist unvermeidlich. Wie du mit ihnen umgehst, ist deine Entscheidung." Sie machte eine Pause. "Also, wie sieht es aus? Kann ich morgen auf dich zählen?"

Einen Moment lang zögerte Isabelle, aber sie kannte die Antwort auf Ursels Frage bereits.
"Ja. Ich werde da sein", sagte sie. Ein Lächeln umspielte Ursels Lippen, und sie klopfte Isabelle mit einer schweren Hand auf die Schulter. "Schön, das zu hören, mein Kind", antwortete sie warmherzig. "Dann geh jetzt schlafen, du wirst es morgen brauchen."

Am nächsten Tag wachte Isabelle früh auf und hatte das seltsame Gefühl, vor Energie zu strotzen. Sie verspürte ein starkes Verlangen, sich des Vertrauens von Ursel würdig zu erweisen und es bei ihr und den anderen Kellnerinnen wieder gut zu machen. Schnell zog sie sich an und machte sich für die Arbeit bereit. Jetzt bist du an der Reihe, Isabelle und den anderen zu helfen.